Du bist auch ein Hund

Meine geliebte L.

Die Blätter des Herbstlaubes werden hin- und hergeworfen.

Nur ein Bild von Dir ist mir geblieben, unwirklich, in einem roten Umschlag. Auf der Rückseite administrative Vermerke. Ambulant, E: 09.03.2004, Gynäkologie, Zürich. Errechneter Geburtstermin: 21. Oktober 2004 – Ich weiss, auch meine Eltern hatten sich eine Tochter gewünscht, sie auch – mein Vater auf jeden Fall!

Es konnte nicht wahr werden! Es durfte – nicht – wahr – werden.

Es wird dicht. Die Erinnerung. Sehnsucht. Die Frage nach dem Sinn bekommt überraschend und unerwartet alle diese Dimensionen, alle diese Namen. Alles würdest Du jetzt zu verstehen versuchen, jetzt, da sich Deine Mutter und ich wegen Geld doch noch zu streiten beginnen. «Deine Forderung übertrifft in unvorstellbarer Weise alles Mass an Respektlosigkeit und Frechheit, was mir je begegnet ist», schreibt sie. Verhängnisvolle Verknüpfung. Verirrung.

Ihn, den Hund, gibt es Deinetwegen. Er hätte Dich begleitet.

Er wird im März 12 Jahr alt. Ich hoffe es, denn wohl bald würdest Du Dich von ihm verabschieden müssen. Es bleibt Dir erspart. Es ist dicht. Tränen. Er hat viel Liebe und Zuwendung bekommen, die auch Dir gehört hätte. Sie ist unteilbar, die Liebe. Und ich weiss nicht, warum sie sich jetzt so heftig bemerkbar machen muss. Deinetwegen, seinetwegen. Oder einfach, weil sie sich jetzt ihren Platz nimmt. Einen Namen hat sie auf jeden Fall bekommen, die Liebe!

Würdest Du mich verstehen? Nicht die Geldfrage – mich? Würdest Du Dich frei bewegen im Leben? Du hast Deine Freundinnen und Freunde nie kennengelernt, obwohl sie hier sind, hier im Leben. Sie wissen nichts von Dir. Bist Du ihnen im Traum erschienen? Ich denke es! Deine Mutter gab es in meinem Traum, in meiner Sehnsucht. Die Emotion sucht sich ihren eigenen Weg und findet immer wieder einen Platz, um lange zu verweilen.

Hat Deine Mutter den Satz im Rausch geschrieben? Die Wut treibt seltsame Blüten. Ja, ich war eifersüchtig auf ein scheinbar unbeschwertes Leben mit den Reisen an ferne Orte. Der ‘entsorgte’ Grabstein Deines Grossvaters liegt in meinem Garten. Es ist dicht. Die Liebe treibt seltsame Blüten. Sie geht an einen neuen Ort, um sich zu zeigen.

F. hat dieser Tage “Grave with a View” fotografiert und mich so zu Dir geführt; und zu mir. Sie habe einmal als Kind ihre Mutter zur Schwester sagen hören: «Die kann man einfach nicht gern haben» – Mutterliebe treibt seltsame Blüten.

Übrigens: Du hast drei Brüder. Eine grosse Familie, eine ziemlich anstrengende, denke ich. Du bist stark. Du hast Deine Ruhe und beseelst all jene, die unterwegs sind, die sich noch kennenlernen wollen – manchmal kennenlernen müssen.

Ich hoffe, Du bleibst uns treu in unseren Träumen.

Ich liebe Dich!  ▬